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Vorlage - 028/08  

 
 
Betreff: Bericht zum "Cochemer Modell" und zur Personalsituation der Psychologischen Beratungsstelle des Landratsamtes
Status:öffentlich  
Federführend:Geschäftsbereich Jugend und Familie   
Beratungsfolge:
Jugendhilfeausschuss Entscheidung
08.04.2008 
Gemeinsame Sitzung des Sozialausschusses und des Jugendhilfeausschusses ungeändert beschlossen   

Antrag der Verwaltung

Antrag der Verwaltung:

 

1.  Der kreisweiten Umsetzung der Schlichtungspraxis in Familienrechtssachen nach dem Cochemer Modell wird zugestimmt. Die Verwaltung wird beauftragt mit den Familiengerichten, Fachanwälten, Verfahrenspflegern und den Psychologischen Beratungsstellen die vorbereitenden Abstimmungsgespräche zu führen.

 

2.  Die vakante Stelle bei der Psychologischen Beratungsstelle des Ostalbkreises wird wiederbesetzt.

Sachverhalt/Begründung

Sachverhalt/Begründung

 

I.   Ausgangssituation und Allgemeines

 

In Baden-Württemberg waren im Jahr 2004 ca. 22.000 Kinder von Trennungs- und Scheidungsverfahren ihrer Eltern betroffen. Im Ostalbkreis, der nach Erhebungen des Landesjugendamtes eine im Landesvergleich überdurchschnittlich hohe Scheidungsrate aufweist, gab es im Jahr 2007 363 neue Scheidungsfamilien, in denen Kinder betroffen waren. Im Jahr 2006 waren es 420 Scheidungsfamilien.

 

Nicht selten werden Kinder dabei von ihren Eltern zur Durchsetzung eigener Interessen „instrumentalisiert“. In ca. 10 % dieser Verfahren streiten die Eltern unversöhnlich um ihr Kind und es ist außergerichtlich keine einvernehmliche Regelung zum Sorge- bzw. Umgangsrecht zu erreichen.

 

An diesem Punkt setzt das „Cochemer Modell“ als ein seit mehr als 10 Jahren bewährtes und erfolgreich arbeitendes Schlichtungsverfahren an. Im Mittelpunkt der Bemühungen steht dabei, dass Eltern auch in dieser schwierigen Situation selbst die Verantwortung für ihre Kinder übernehmen und sich gemeinsam auf alltagstaugliche Umgangsregelungen verständigen.

 

Die Grundsätze des „Cochemer Modells“:

 

Jede am Trennungs- und Scheidungsverfahren beteiligte Profession (Anwälte, Gerichte, Jugendamt, Gutachter, Beratungsstelle) verpflichtet sich, im Interesse des Kindeswohls den elterlichen Konflikt zu schlichten oder erst gar nicht entstehen zu lassen und eine konsensnahe Lösung mit Hilfe interdisziplinärer konsequenter Kooperation zu erreichen. Die frühzeitige Erarbeitung von Lösungen führt zu einer Reduzierung von gerichtlichen Sorgerechts- und Umgangsverfahren. Somit werden auch Verfahren in höheren Instanzen vermieden. Alle beteiligten Fachkräfte, einschließlich Jugendamt und Rechtsbeistände, haben sich in Cochem auf das Ziel des Erhalts gemeinsamer Sorge selbst bei hochstreitigen Fällen verständigt.

 

 

II. Konkrete Umsetzung im Ostalbkreis

 

Der Jugendhilfeausschuss des Ostalbkreises hat in seiner Sitzung am 23.10.2006 beschlossen, das Cochemer Modell in einer modifizierten Form zunächst als Pilotprojekt im Amtsgerichtsbezirk Aalen durchzuführen. Grundlage für diese Entscheidung war ein Gespräch zum Thema „Verantwortliche Elternschaft trotz Trennung und Scheidung“ bei Herrn Landgerichtspräsident Friedrich Unkel im Juni 2006, an dem die Anwaltsvereine Aalen, Ellwangen, Schwäbisch Gmünd und Heidenheim, die Familienrichterinnen und Familienrichter des Landgerichtsbezirks Ellwangen, die Sozialdezernenten des Ostalbkreises und des Landkreises Heidenheim und Vertreterinnen des Regionalen Bündnisses für Familie Ostwürttemberg teilnahmen.

 

Mit Herrn Amtsgerichtsdirektor Michael Lang, Aalen, wurde vereinbart, dass eine Arbeitsgruppe der am Familiengerichtsverfahren beteiligten Berufsgruppen eingerichtet wird. Arbeitstreffen fanden im November 2006, im März, Juni und Dezember 2007 sowie im Februar 2008 statt. Bei diesen Treffen tauschten Familienrichter, Rechtsanwälte, die zuständigen Fachkräfte des Jugendamtes, der Psychologischen Beratungsstelle des Ostalbkreises und die Verfahrenspfleger ihre jeweiligen Arbeitsansätze und Erfahrungen aus.

 

Folgende Praxis hat sich im Pilotprojekt des Amtsgerichtsbezirks Aalen bewährt:

 

Ø       Sobald ein Elternteil in einer strittigen Trennung oder Scheidung einen Antrag zum Sorgerecht oder Umgangsrecht beim Familiengericht gestellt hat, findet innerhalb von 2 - 4 Wochen nach Eingang des Antrags die erste mündliche Verhandlung vor Gericht statt.

Ø       Die Rechtsanwälte beschränken sich im Vorfeld auf die allgemeine Antragsstellung. Weitere Schriftsätze, die unter Umständen die Positionen eher verhärten, werden nicht erstellt. Einzelheiten werden in der mündlichen Verhandlung besprochen.

Ø       Die Rechtsanwälte arbeiten daran, dass in Sorge- bzw. Umgangsrechtsverfahren keine Konfliktstrategien verfolgt werden. Das Kindeswohl steht an erster Stelle.

Ø       An der familiengerichtlichen Erstanhörung nimmt die/der zuständige Mitarbeiter/in des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) beim Jugendamt grundsätzlich persönlich teil. Ein Schriftsatz wird nicht erstellt. Bis zur ersten mündlichen Verhandlung findet ein Gespräch der Fachkraft des ASD mit den Eltern und wenn erforderlich auch mit den Kindern statt. In der mündlichen Verhandlung unterrichtet die Fachkraft des ASD insbesondere über angebotene und erbrachte Leistungen, bringt erzieherische und soziale Gesichtspunkte zur Entwicklung des Kindes ein und weist die beteiligten Eltern auf weitere Möglichkeiten der Lösung des Konflikts im Sinne der Kinder hin.

Ø       Kommt es trotz aller Anstrengungen der beteiligten Berufsgruppen und der Eltern zu keiner Einigung bezüglich der elterlichen Sorge oder des Umgangsrechts, werden die Eltern direkt aus der Verhandlung beim Familiengericht an die Psychologische Beratungsstelle des Landratsamtes in Aalen verwiesen mit dem Ziel, dort eine tragfähige Lösung zu erarbeiten.

Ø       Der erste Beratungstermin bei der Psychologischen Beratungsstelle soll innerhalb von 2 Wochen nach der Verhandlung zustande kommen.

Ø       Alle Unterhaltsfragen werden streng abgekoppelt bearbeitet.

Bei den Arbeitstreffen waren sich alle beteiligten Berufsgruppen einig, dass das neue Verfahren nach dem Cochemer Modell sowohl für die Eltern als auch vor allem für die betroffenen Kinder bessere Möglichkeiten und positivere Entwicklungschancen bietet. Die im Familiengerichtsbezirk Aalen tätigen Fachanwälte für Familienrecht begrüßen das streitschlichtende Vorgehen ausdrücklich. Im weiteren Verlauf des Pilotprojekts nahm auf eigenen Wunsch die Familienrichterin des Amtsgerichts Ellwangen an der Arbeitsgruppe teil.

 

Im Oktober 2007 führte der Ostalbkreis gemeinsam mit dem Landkreis Heidenheim eine zweitägige Fachtagung für Familienrichter, Fachanwälte für Familienrecht, Jugendamtsmitarbeiter, Beratungsstellen und Verfahrenspfleger durch. Fachreferenten waren die Begründer des Cochemer Modells, Richter am Amtsgericht Cochem, Jürgen Rudolph, Rechtsanwalt Bernhard Theisen und die Psychologische Sachverständige Ursula Kodjoe.

 

Im Anschluss an diese Fachtagung mit ca. 100 Teilnehmern, bekräftigten vor allem die Familienrichter und die Fachanwälte für Familienrecht aus dem Amtsgerichtsbezirk Schwäbisch Gmünd ihr Anliegen, das streitschlichtende Verfahren nach dem Cochemer Modell auch im Amtsgerichtbezirk Schwäbisch Gmünd einzuführen. Entsprechende schriftliche Bitten wurden an Herrn Landgerichtspräsident Friedrich Unkel und an Herrn Landrat Pavel gerichtet.

 

 

III. Auswertung des Pilotprojekts

 

In den 14 Monaten des Auswertungszeitraumes von Mitte Dezember 2006 bis Mitte Februar 2008 wurden vom Familiengericht Aalen 108 Anträge zum Umgangsrecht bzw. zur elterlichen Sorge nach der neuen Schlichtungspraxis in Familienrechtsachen behandelt. Davon konnten 88 Fälle im Zusammenwirken von Gericht und Allgemeinem Sozialen Dienst des Jugendamtes einer einvernehmlichen Lösung zugeführt werden. In allen 108 Fällen führte der Allgemeine Soziale Dienst die Beratungsgespräche mit den Eltern, wenn erforderlich auch mit den Kindern und wirkte in den Familiengerichtsverfahren mit. Je Einzelfall ergab sich ein durchschnittlicher Zeitaufwand von 10 - 15 Stunden.

 

In 20 Fällen war eine einvernehmliche Lösung der Eltern innerhalb der Gerichtsverhandlung trotz größter Bemühungen der beteiligten Berufsgruppen nicht möglich, so dass diese unmittelbar danach an die Psychologische Beratungsstelle des Landratsamtes in Aalen vermittelt wurden. Die durchschnittliche Dauer zwischen Anmeldedatum und Erstgespräch betrug 21 Tage. Die durchschnittliche Stundenzahl pro abgeschlossener Beratung betrug 16 Stunden.

 

Idealerweise sollten Beratungsgespräche in hochstrittigen Trennungs- und Scheidungsfällen von zwei Fachkräften, am günstigsten von einem männlichen Berater und einer weiblichen Beraterin geführt werden. Auch ist eine hohe Beratungsfrequenz erforderlich, um einer weiteren Eskalation des Konflikts frühzeitig vorbeugen zu können.

 

Da sich das Modellprojekt bisher auf den Familiengerichtsbezirk Aalen konzentrierte, gibt es ostalbkreisweit noch keine einheitliche Arbeitsweise in gerichtlichen Trennungs- und Scheidungsverfahren. So kann beispielsweise der Anwalt des einen Elternteils nach der „Cochemer Praxis“ arbeiten, der des anderen Elternteils jedoch nicht.

 

 

IV. Auswirkungen einer ostalbkreisweiten Umsetzung

 

Eine Umsetzung der Schlichtungspraxis in Familienrechtsachen nach dem „Cochemer Modell“ auch in den Familiengerichtsbezirken Ellwangen und Schwäbisch Gmünd müsste analog der Verfahrensweise im Amtsgerichtsbezirk Aalen vorbereitet werden. Alle vier Psychologischen Beratungsstellen im Ostalbkreis müssten am Verfahren mitwirken.

 

Der Ostalbkreis hat mit den Psychologischen Beratungsstellen, St. Canisius gGmbH in Schwäbisch Gmünd, Marienpflege Ellwangen und der Ökumenischen Beratungsstelle in Aalen Vereinbarungen über die Erbringung ambulanter Erziehungshilfen abgeschlossen. Die Beratung bei Trennung und Scheidung nach § 28 SGB VIII ist dabei als Leistung definiert.

 

 

V. Anträge der Kreistagsfraktionen

 

Die Kreistagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen wiederholte im Rahmen der Stellungnahme der Fraktionen zum Kreishaushalt 2008 ihren Antrag auf Wiederbesetzung der Leitungsstelle der Psychologischen Beratungsstelle beim Landratsamt. Schon in seiner Sitzung am 20.3.2007 hatte der Jugendhilfeausschuss diese Angelegenheit beraten. Auf Vorschlag von Landrat Pavel wurde damals die Entscheidung zurück gestellt. Es sollten zunächst Erfahrungswerte aus der Umsetzung des Cochemer Modells, der Entwicklung der Wartezeiten in der Psychologischen Beratungsstelle des Landratsamtes und anderer Aufgabenbereiche abgewartet werden.

 

Die SPD-Kreistagsfraktion, vertreten durch Herrn Mischko, hat mit Schreiben vom 27.11.2007 eine personelle Aufstockung im Bereich der Erziehungsberatung/Psychologischen Beratung des Landkreises für die Betreuung und Begleitung von Trennungs- und Scheidungskindern beantragt.

 

Im Ostalbkreis wird von St. Canisius in Schwäbisch Gmünd eine Gruppe für Kinder aus Trennungs- und Scheidungsfamilien, die sogenannte TUSCH-Gruppe angeboten, die es ermöglicht, den von Trennung und Scheidung ihrer Eltern betroffenen Kindern besser mit ihren Belastungen, Gefühlen und der Trennungssituation zurecht zu kommen. Daneben wird ein Gruppenseminar für Kinder zwischen 8 und 12 Jahren im „Haus am Regenbaum“ in Aalen angeboten. Für beide Gruppen werden Teilnehmerbeiträge erhoben.

 

Gruppenangebote werden insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Trennung ihrer Eltern für die betroffenen Kinder häufig ein traumatisches Erlebnis darstellt, von Fachleuten als niederschwelliges und wertvolles Hilfsangebot bewertet.

 

Kinder aus Trennungsfamilien entwickeln in ihrem weiteren Leben häufig psychische Auffälligkeiten. Durch das hohe Konfliktpotential der Eltern in der Scheidungsaus­einandersetzung geraten die Kinder häufig aus dem Blick und müssen mit ihren Gefühlen und Problemen selbst zurecht kommen. Durch Gruppenangebote können diese Kinder aus ihrer Isolation geholt werden. Außerdem können bei den Kontakten psychische Auffälligkeiten frühzeitig erkannt werden.

 

Zusätzliche Gruppenangebote sind in den Psychologischen Beratungsstellen derzeit aus Kapazitätsgründen nicht möglich. Mit der geplanten Ausweitung des Cochemer Modells kommt eine weitere Aufgabe hinzu. Die Leitungsstelle bei der Psychologischen Beratungsstelle des Landratsamtes ist seit 5 Jahren nicht besetzt. Die Wartezeit beträgt derzeit fast 3 Monate.

 

Durch die Besetzung der fehlenden Personalstelle könnte ein weiteres Gruppenangebot für Kinder aus Trennungs- und Scheidungsfamilien gemacht werden. In Kooperation mit den weiteren Psychologischen Beratungsstellen im Landkreis müsste es gelingen, ein flächendeckendes Angebot im Ostalbkreis auf den Weg zu bringen.

Finanzierung und Folgekosten

Finanzierung und Folgekosten

 

Die Personal- und Sachkosten für eine zusätzliche psychologische Fachkraft in der Psychologischen Beratungsstelle des Landratsamtes betragen jährlich ca. 70.000 €. Unter Berücksichtigung des zeitlichen Vorlaufs ist die Wiederbesetzung der vakanten Stelle nicht vor Ende des Jahres 2008/Anfang des Jahres 2009 zu erwarten. Die Kosten gehen zu Lasten des allgemeinen Personalbudgets.

Anlagen

Anlagen

 

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Sichtvermerke

 

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Funk


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Dezernat II

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Hubel

Landrat

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Pavel